|
Seit 1880 ist bekannt, dass älter werden und sterben in der Natur gar nicht zwingend notwendig sind - an mir war dieses Wissen bisher aber vorübergegangen. Dabei interessiere ich mich für Biologie. Ich hatte noch mitbekommen, dass ein Axolotl ewig jung bleibt und seine Gliedmaßen nachwachsen lassen kann, aber das hielt ich immer noch für eine Art Trick, die eigentlich normalen Alterungsprozesse zu umgehen. Aber siehe, es ist ganz anders. Und da das Thema Tod und Sterben irgendwie gut in den November passen, dachte ich, ich lasse mein neuerworbenes Wissen mal unter die Leute. Ich finde die Erkenntnis phänomenal. Auch wenn das Wissen jetzt keine direkten Auswirkungen nach sich zieht, gibt es doch einen gewissen neuen Kontext, in dem man mal über sein eigenes Leben oder das Leben als solches nachdenken kann. Ich beziehe meine Kenntnis von einem Tagesspiegel-Artikel von Sascha Karberg. Da der Artikel für die meisten Menschen hinter einer Paywall steckt, zitiere ich den ersten, relevanten, Teil des Artikels, die hinteren Teile fasse ich zusammen. Als das Leben auf den Tod kam: Die Erfindung der Sterblichkeit – und warum sie so wichtig ist. "Als „das einzig Sichere“ im Leben beschrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche 1882 den Tod. Und wohl bis heute werden die meisten Menschen zustimmen, aufgrund ihrer Erfahrung mit der alltäglichen Vergänglichkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen, dass Leben und Tod untrennbar miteinander verbunden sind. Und doch ist dem nicht so. Sicher: Den Tod kann es ohne Leben nicht geben. Sterben kann nur, was gelebt hat. Doch das Leben selbst kann auf den Tod sehr wohl verzichten. Tatsächlich gab es in den ersten ein bis zwei Milliarden Jahren seit der Entstehung des Lebens weder Altern noch „natürliches“ Sterben. Der Tod ist eine recht neue Erfindung der Evolution. Wie auch immer das Leben auf Erden begann, es kam lange vor dem Tod auf die Welt. Die ersten Zellen, die sich vielleicht vor 3,8, vielleicht schon vor 4,6 Milliarden Jahren in der Ursuppe zu teilen und vermehren begannen, waren „potenziell unsterblich“, wie Biologen sagen. Zwar gingen hier und da Zellen aufgrund von Hitze oder Kälte zugrunde oder die eine Bakterie fraß die andere. Doch ohne solche Zwischenfälle, unter konstant guten Umweltbedingungen, können Bakterien und Einzeller damals wie heute prinzipiell ewig leben, denn sie altern nicht. Eine „Kindheit“ oder „Jugend“, einen allmählichen Verlust ihrer Körper- bzw. Zellfunktionen kennen sie nicht. Zwar wachsen auch Bakterien und Einzeller, doch irgendwann teilen sie sich und gehen vollständig in den beiden Tochterzellen auf. Kein Leichnam bleibt zurück. Der Faden des Lebens reißt nie ab. Erst seit es mehrzellige Lebewesen gibt, seit frühestens zwei Milliarden, spätestens seit 600 Millionen Jahren, existiert auch der Tod als ein von der Natur grundsätzlich vorgesehenes Ende des Lebens. Mal wird der Schlussstrich schon nach wenigen Stunden gezogen, wie bei Eintagsfliegen, mal dauert es Jahrtausende, wie bei Riesenmammutbäumen oder Schwämmen. Über 10.000 Jahre alt soll ein Exemplar des Riesenschwamms Anoxycalyx joubini am antarktischen Ozeanboden sein, das damit als das älteste bekannte Tier der Welt gilt. Unter den Pflanzen hält Neptungras (Posidonia oceanica) den Rekord, mit gut 100.000 Jahren. Aber auch wenn manche Arten mal früher, mal später sterben, in der Regel ist der Tod unausweichlich. Die Frage ist, warum sich die Evolution irgendwann vom ewigen aufs sterbliche Leben verlegte, obwohl sie Milliarden Jahre lang darauf verzichten konnte? Von Anbeginn an waren Zellen, die kleinsten Einheiten des Lebens, widrigen Umweltbedingungen ausgesetzt. Sie mussten der UV-Strahlung, Umweltgiften, Kälte und Hitze trotzen. Nur wer ausgeklügelte Schutzvorkehrungen und Reparaturprozesse entwickelte, überlebte. Zum Werkzeugkasten jeder Zelle gehören deshalb Enzyme, die Fehler im Erbgut verbessern, kaputte Proteine zersetzen und recyceln und Membranen flicken können. Aber mit der Entstehung vielzelliger Organismen erwiesen sich diese Reparaturprozesse entweder als zu aufwendig oder als unnötig. Als aus den Einzellern nicht mehr zwei identische, sondern unterschiedlich befähigte Zellen entstanden, etwa spezialisiert auf Verdauung, auf Fortbewegung, auf Wahrnehmung, auf Reizweiterleitung oder Schutz, war es offenbar effektiver, nur jene Zellen fit und unsterblich zu halten, die zur Fortpflanzung bestimmt waren: Ei- und Samenzellen, die Keimzellen. Nur diese knüpfen das seit den ersten Urzellen bestehende Band des Lebens weiter, die „Keimbahn“, wie Biologen sagen. Die übrigen Zellen – das „Soma“, das den Körper des Menschen, eines Elefanten, eines Wurms oder eines Baumes bildet – sind hingegen entbehrlich und sterben. Der natürliche Tod ist keine primäre Notwendigkeit, sondern wurde im Laufe der Evolution erworben. Der Erste, der diese Trennung von Keimbahn und Soma und ihre Konsequenz für die Sterblichkeit formulierte, war August Weismann, Evolutionsbiologe und Zoologie-Professor an der Universität Freiburg. In einer Reihe von Essays zwischen 1881 und 1891, veröffentlicht in seinen „Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen“, postulierte er: „Der natürliche Tod ist keine primäre Notwendigkeit, sondern wurde im Laufe der darwinistischen Evolution sekundär erworben.“ Und: „Die Evolution führte zu einer endlichen replikativen Lebensdauer der somatischen Gewebezellen.“ Obwohl Weismann damals weder von Genen noch von DNA wusste, lag er richtig. Der Tod ist ein Produkt der Evolution....Offenbar war genau das, die Trennung von unsterblicher Keimbahn und sterblichem Soma, der entscheidende evolutive Vorteil, der Vielzellern ermöglichte, die Welt zu erobern. So konnten sie ihre sterblichen Hüllen so perfekt verändern, dass sie selbst widrigste Lebensräume an Land und sogar in der Luft erschließen konnten. Die Erfindung des Sterbens ist evolutiv so erfolgreich, dass kein Vielzeller bekannt ist, der unsterblich wäre. Höchstens der Süßwasserpolyp Hydra vulgaris [wird 5-15 mm groß].Tatsächlich ist dieses Nesseltier der einzige Vielzeller, der das Attribut „unsterblich“ verdient. Weder altert es noch stirbt es nach einer gewissen Lebenszeit. Abgeschnittene Tentakel wachsen nach. In Einzelteile zerstückelt finden die Zellen entweder wieder zueinander oder es erwachsen daraus neue Polypen." Der Artikel beschreibt weiter, wie Stammzellen und Krebszellen langlebiger sind und wie bestimmte Gene in diesen Zellen zu mehr Regenerationsfähigkeit und damit Langlebigkeit der Zellen führt. Das Nesseltier Hydra hat mehr Stammzellen als spezialisierte Körperzellen, von letzteren gibt es nur ein paar Sinnes-, Nerven- und Hautzellen, aber keine Organe. Behauptet wird, dass es zu energieaufwändig sei, dass ein menschliches Organ sich ständig mit Stammzellen erneuere. Ein wichtiges Gen heißt FoxO und ist im Menschen wie im Nesseltier vorhanden, nur bei uns leicht mutiert und daher weniger aktiv.
Dann wird argumentiert, dass das Altern und Sterben der Vielzeller evolutionär erfolgreicher ist - was auch mit wissenschaftlichen Modellen nachgerechnet wird und damit als "bewiesen" gilt. Nicht-sterbliche Vielzeller geraten in eine Ressourcen-Konkurrenz mit ihren Nachkommen. Schließlich meint der Autor, dass unsere Angst vor dem Tod sich ja nur evolutionär entwickeln konnte: "Unser Gehirn mag gegen die Unvermeidlichkeit des Sterbens aufbegehren, weil uns unser Bewusstsein anders als Tieren den nahenden Tod vor Augen führt. Aber diese Fähigkeit zum Denken, zu sozialem Zusammenleben, zu Kultur hat sich überhaupt nur infolge des Todes-Tricks der Evolution entwickeln können." Er kann sich mit der eigenen Sterblichkeit anscheinend anfreunden: im "Dienste der Arterhaltung" für die neue Generation Platz zu machen, "denn sie könnten jene Mutationen mit sich bringen, die eine (noch) bessere Anpassung an die Umwelt ermöglichen." Also, das führt zwar jetzt vom eigentlichen Thema (potenzielle Unsterblichkeit der Einzeller) weg, aber ich möchte noch kurz etwas zum letzten Absatz kommentieren. Ich kann dem Autor da nicht folgen. Ich gehe davon aus, dass Natur und Evolution im Menschen zwar Wert- und Moralvorstellungen haben entstehen lassen, selbst jedoch keinerlei Werte vertreten, die uns Menschen etwas bedeuten. Fairness, Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit finden sich da beispielsweise nicht. Warum sich das Leben (oder die Biosphäre) zu immer mehr Mannigfaltigkeit entwickelt, erscheint mehr so ein Selbstzweck zu sein und ist doch ziemlich wertneutral (wenn es auch in Staunen versetzt). Warum sich als Mensch in den Dienst der Evolution und die bessere Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen stellen? Das wäre doch ein Akt großer Demut. Aktuell kann ich von einer solchen Haltung in der westlichen Zivilisation auch ausgesprochen wenig erkennen. Noch nicht mal eine abgespeckte Form der Demut, nämlich eine solche, die auch eigennützig wäre, wie z.B. "im Dienste der eigenen Lebensgrundlagenerhaltung" Verzicht zu üben, der Natur mehr Spielräume zu überlassen und nicht gnadenlos auszubeuten, ist in nenneswertem Ausmaß zu erkennen. Übrigens sind unsere Vorstellungen von der Evolution stark durch unsere kulturelle Brille (Marktwirtschaft) geprägt und das Buch "Survival of the Nettest" von Dirk Brockmann korrigiert die viel zu starke Betonung von Konkurrenz durch zahlreiche Gegenbeispiele über Kooperation in der Natur. Aber das eigentliche Thema war ja ein anderes. Falls sich also jemand fragt, oder von Kindern schonmal gefragt wurde, "Warum müssen wir sterben?" dem gibt die Biologie eine klare Antwort: weil wir Mehrzeller sind. Aber man kann natürlich auch antworten: weil das mit der Genschere noch nicht so gut klappt. Die Forschung wird aber früher oder später dahinterkommen. Und wenn wir dann die ewige Zellverjüngung beherrschen, dürfte das Thema Übergewicht praktischerweise der Vergangenheit angehören – schließlich braucht die Zellreparatur mehr Energie. Nur die Sache mit der Überbevölkerung, das wird noch knifflig.
0 Kommentare
Leave a Reply. |
Kategorien
All
Archiv
November 2025
|
RSS Feed